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Einstieg in die Kostendämpfung – immer Ärger mit den Ausgaben

Mehr Leistungen, mehr Versicherte, mehr Kosten, mehr Regulierung

1963 gaben die KrankenkassenWeiterlesen knapp 13 Milliarden DM für die Gesundheit ihrer Versicherten aus. 1973 waren es schon mehr als 43 Milliarden DM. 2023 umfassten die gesamten Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) rund 300 Milliarden Euro. Ist das ein Beweis dafür, dass die Kosten seit den 70er Jahren quasi explodieren? Müssten Versicherte mehr aus der eigenen Tasche zuzahlen? Sollten Ärztinnen und Ärzte bei der VerordnungWeiterlesen von Arzneimitteln oder Krankengymnastik sparsamer sein? Seit Ende der 1970er Jahre der Begriff von der „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen aufkam, wird über solche Fragen kontrovers diskutiert. Beim Reden ist es nicht geblieben. Kassenärztliche Vereinigungen, Krankenkassen und Versicherte wurden seitdem in immer neue Spar- und Regulierungsgesetze einbezogen.

In den Jahren nach dem II. Weltkrieg wächst und wächst die GKV. Es werden viele neue Leistungen aufgenommen: Maßnahmen zur Vorsorge und Früherkennung von Krankheiten oder auch für den Zahnersatz. Der Kreis der Versicherten wird immer größer: Ab 1956 werden nach und nach Studierende, Landwirtinnen und Landwirte, Menschen mit Schwerbehinderung, Kunstschaffende und Publizierende aufgenommen. Zwischen 1950 und 1989 erhöht sich die Zahl der GKV-Versicherten von 20,4 Millionen Menschen auf 37,2 Millionen.

Mehr Ausgaben als Folge verbesserter Leistungen

Das, was später als „Kostenexplosion“ kritisiert wird, gilt zunächst als sozialer Fortschritt. Mehr GKV-Ausgaben, das bedeutet verbesserte Leistungen und umfassenderen Versicherungsschutz. Zwischen 1962 und 1968 erhöhen sich beispielsweise die Kosten für SachleistungenWeiterlesen (u.a. Medikamente, Verband- und HilfsmittelWeiterlesen) bei den Krankenkassen jährlich um mindestens zehn Prozent, teilweise um 15 oder sogar 20 Prozent. Das wird auch deshalb akzeptiert, weil das Wirtschaftswachstum nach dem Krieg zu immer höheren Einnahmen der Krankenkassen führt. Da die Beiträge einkommensbezogen erhoben werden, gilt: Wird mehr verdient, zahlen Arbeitnehmer wie Arbeitgeber automatisch mehr ein.  

Weitere Entwicklungen führen zu höheren Ausgaben: 1960 erklärt das Bundesverfassungsgericht die Niederlassungsbeschränkungen für Ärztinnen und Ärzte für unzulässig. Sie werden – zunächst  - aufgehoben. Wer möchte, kann nun einfacher eine Praxis eröffnen. Vorher hing die Zahl der zuzulassenden Kassenärzte von der Zahl der GKV-Versicherten ab. Außerdem wirkt sich der Übergang zum Einzelhonorierungsverfahren ab, durch das die Ausgaben für ambulante ärztliche Behandlungen steigen.

Die Weltwirtschaftskrise von 1973 hat auch Folgen für die GKV

1973 setzt eine Weltwirtschaftskrise ein, ausgelöst durch ein Ölembargo gegen die USA und andere westliche Staaten. Innerhalb weniger Monate vervierfacht sich der Ölpreis. Energie wird teurer, dadurch auch viele Dinge des täglichen Bedarfs. Die bundesdeutsche Wirtschaft gerät unter Druck, hohe Inflation und steigende Arbeitslosigkeit sind die Folgen. 1975 sind mehr als eine Million Menschen arbeitslos, Anfang der 80er Jahre über zwei Millionen. Das schmälert auch das Beitragsaufkommen der GKV.

Auf einmal gilt die Gesundheitsversorgung als zu teuer. Schon Anfang der 70er Jahre hat der CDU-Politiker Heiner Geißler gemeinsam mit Experten eine Hochrechnung erstellt („Krankenversicherungs-Budget 1974“). Darin wird prognostiziert, dass sich die Leistungsausgaben von 1973 bis 1978 von 41 Mrd. DM auf über 85 Mrd. DM erhöhen werden, wenn nicht gegengesteuert wird. Die Beitragssätze würden dann von 9,2 auf 13,1 Prozent ansteigen müssen. Diese Prognosen erfüllen sich nicht. Doch die GKV-Kosten steigen tatsächlich Jahr um Jahr. Ob das gut oder schlecht ist, was die entscheidenden Ursachen sind – darüber wird seitdem debattiert.

Gesundheitsversorgung ist etwas anderes als Industrieproduktion

Bis heute weisen Wissenschaftler darauf hin, dass die Ausgaben für Gesundheit in Wohlstandsgesellschaften erwartbar steigen. Außerdem sind die medizinisch-technischen Möglichkeiten in der Versorgung gewachsen, die Lebenserwartung hat sich immer weiter erhöht. Das Krankheitsspektrum hat sich verändert, weg von Infektions- hin zu chronischen Erkrankungen. All das führt zu steigenden Ausgaben. Manche Fachleute halten das System der Gemeinsamen Selbstverwaltung (siehe auch: „Unsere Partner“) für ineffizient. Einige würden ein staatlich gesteuertes Gesundheitssystem bevorzugen, einige ein stärker am System der privaten Krankenversicherung ausgerichtetes.

Immer wieder wird aber auch darauf hingewiesen: Gesundheitsversorgung ist Versorgung von Menschen durch Menschen. Die Arbeit von Augenärztinnen oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten kann man genau wie die vieler weiterer Gesundheitsberufe digital unterstützen. Aber nicht durch Digitales ersetzen. Und nicht wie zum Beispiel die Produktion von Kleidung standardisieren, ins Ausland verlagern, verbilligen. Gesundheitsversorgung lässt sich auch nicht wie Lebensmittel in Dosen auf Vorrat produzieren, einlagern und bei Bedarf ausliefern.

Seit 1977: Immer neue Kostendämpfungs- und Strukturgesetze

Von 1977 an werden mehrere Kostendämpfungsgesetze erlassen. Ihr zentrales Ziel besteht darin, für die GKV zu einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik zu gelangen. Das hat Konsequenzen für die Mitglieder der KVen, die Krankenkassen – und die Versicherten. Bei Zahnersatz wird die Kostenübernahme begrenzt. Bestimmte Arzneimittel werden gar nicht mehr bezahlt („Negativliste“). Für Kuren müssen Versicherte einen Teil der Kosten durch Zuzahlungen mittragen. In die Beitragsberechnung für die GKV wird das Weihnachtsgeld miteinbezogen.

Für die Selbstverwaltung ändern sich die Regeln ebenfalls immer wieder. Nur zwei Beispiele:

  • Das Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetz (1976) verpflichtet die Landesverbände der Krankenkassen und die KVen, wieder eine BedarfsplanungWeiterlesen für die ambulante VersorgungWeiterlesen aufzustellen. Ärztinnen und Ärzte können sich nicht länger frei in eigener Praxis niederlassen.
  • Mit dem Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz (1977) werden Verhandlungen ums Geld weg von den einzelnen Krankenkassen hin auf ihre Landesverbände verlegt. Und: Es wird eine für alle KVen und Krankenkassen verbindliche Grundlage für die Abrechnung ambulanter ärztlicher Leistungen eingeführt, der Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM).

1989 beginnt mit dem Gesundheits-Reformgesetz (GRG) eine neue Phase der Regulierung. Die reine Kostendämpfung wird längst als zu wenig wirksam eingeschätzt. Strukturelle Veränderungen im System sollen dauerhafte Verbesserungen auch bei der Finanzierung bewirken. Einige Beispiele aus dem GRG:

  • Prävention wird Pflichtleistung der Krankenkassen, sie müssen Angebote zur Gesundheitsförderung anbieten.
  • Krankenkassen erhalten mehr Mitwirkungsrechte, um die Wirtschaftlichkeit in Krankenhäusern und Praxen zu überprüfen.
  • Für alle Verträge, die zwischen Krankenkassen und den Leistungserbringern im Gesundheitswesen abgeschlossen werden, muss das Grundprinzip der Beitragssatzstabilität gelten.

Seitdem werden nahezu alljährlich Gesetze erlassen, um die finanzielle Grundlage der Gesetzlichen Krankenversicherung zu stabilisieren und die Strukturen zu verbessern. Damit waren und sind teilweise weitreichende Eingriffe in das KV-System verbunden, mit sehr unterschiedlichen Folgen. 2004 tritt das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) in Kraft. Die bisher je vier KVen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz müssen fusionieren. Außerdem endet die Zeit ehrenamtlicher Vorstände in KVen und KBV: In Zukunft müssen sie hauptamtlich arbeiten.

2007 verändert das Vertragsarztrechtänderungsgesetz die ambulante VersorgungWeiterlesen strukturell. Es sieht Flexibilisierungen vor, um einen drohenden Ärztemangel abzuwenden. Ärztinnen und Ärzte können sich seitdem auch in Teilzeit niederlassen, Kolleginnen und Kollegen in ihren Praxen anstellen, zu Überörtlichen Berufsausübungsgemeinschaften zusammenschließen. 2009 führt das Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu weiteren Strukturveränderungen. U.a. wird die Altersgrenze für Ärztinnen und Ärzte in der NiederlassungWeiterlesen aufgehoben. Sie können auch noch praktizieren, wenn sie älter als 68 Jahre sind.

Letzte Änderung: 17. März 2025